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Lebensfreude auf zwei Pfoten und zwei Rädern

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Charles’ Geschichte traf viele Tierfreunde mitten ins Herz. Einige rührte das tapfere Katerlein mit den lahmenden Hinterbeinen sogar  zu Tränen. Und der Meininger Tierschutzverein erlebte eine unbeschreibliche Welle aus Mitgefühl und   Spendenhilfe. Wie geht’s dem jungen Mann heute?

Von Antje Kanzler

 

Meiningen Mit dem Anschleichen auf Samtpfötchen wird es  schwierig für den aufgeweckten Charles. Mit seinem metallenen fahrbaren Untersatz poltert er über die neuen dunkelgrauen Tierheimfliesen und eckt auch noch hier und da mal ein bisschen an. Am Wochenende zog er als erster Bewohner ins neue  Mehrzweckgebäude des Tierheims Rohrer Berg, wo es noch nach frischer Farbe und neuen Möbeln riecht. Der Tierschutzverein möchte es  zum Meininger Tiererlebnistag am 25. Mai einweihen. Charles darf  schon jetzt darin residieren.  Eine kurzzeitig offene Tür hat der neugierige, unternehmungslustige Rollifahrer am Montag gleich mal zum selbstständigen Frische-Luft-Schnappen genutzt und die Freiheit des Tierheimgeländes genossen. Von wegen gehandicapt! An die neue Umgebung nach neun Wochen in der Tierarztpraxis  in Obermaßfeld muss sich der Kater mit dem königlichen Namen nun erst einmal gewöhnen. Doch vielleicht braucht er das auch gar nicht so sehr, denn eine Familie hat sich schon nach dem Rollikater erkundigt und kann   sich vorstellen, dem hinreißenden kleinen Tiger ein barrierefreies Zuhause zu geben – viel Pflege, Zuwendung und  Liebe inklusive. Wenn es nicht klappen sollte, dürfen sich auch gern andere Tierfreunde melden,  die Charles in ihrer Familie aufnehmen möchten. Ob das Zuhause für den Handicap-Kater geeignet ist, muss natürlich eine Vorkontrolle  zeigen. Wie bei jedem Vermittlungstier aus dem Meininger Tierheim, denn alle Schützlinge des Tierschutzvereins haben ein schönes, artgerechtes Leben verdient. 

Spender, Paten, Unterstützer

Ein erster Charles-Interessant   aus Rheinland-Pfalz – Nachrichten überwinden eben heutzutage via Internet   spielend Hunderte Kilometer – entschied sich letztlich schweren Herzens  doch gegen die Adoption. Stattdessen will er aber für Charles’ Physiotherapie aufkommen. Aus Erfurt hat sich zudem  ein junger Mann gemeldet, der eine Patenschaft für Charles übernehmen und ihn bis zur Vermittlung monatlich mit einem Geldbetrag unterstützen möchte.  Kinder spendeten ihre fünf Euro Taschengeld und ein Friseursalon in Schwarza ließ seine Kunden eine Spendenbox füllen. Das sind nur einige von ganz vielen bewegenden Reaktionen auf die Bitte des Meininger Tierschutzvereins an die Tierfreunde, die aufwendige Behandlung des kleinen Pechvogels zu unterstützen.

Tagelang trafen kleinere und größere Beträge für Rollikater Charles auf dem Vereinskonto ein – insgesamt mehr als 150, oft verbunden mit guten Wünschen.  Noch immer trudeln Spenden ein, sodass  von sagenhaften 7000 Euro für Charles’ Therapien ausgegangen werden darf.   So vielen tierlieben Zweibeinern ist es zu verdanken, dass die liebenswerte Fellnase wieder mobil sein kann,   wenn das vorerst auch nur mit Stützrädern unter dem Bauch gelingt.

Staunend und dankbar nahmen die Tierschützer die bemerkenswerte Welle des Mitgefühls zur Kenntnis. „Wir können den Spendern dafür gar nicht genug danken“, sagt Vereinsvorsitzender Mathias Möder. „Wir freuen uns sehr über all die Geld- und Sachspenden, die uns zuteil werden, und das Interesse an Charles und unseren anderen Tieren. Denn es ist auch eine Wertschätzung unserer ehrenamtlichen Arbeit. Ohne diese Unterstützung wäre das Tierheim nicht zu betreiben und könnte Tieren wie Charles nicht auf solche Weise geholfen werden.“

Das „Krankengeld“ für den Unfallkater   und eine Spende der behandelnden Tierarztpraxis von Friederike Wietschel in Obermaßfeld machten und machen es möglich, den Unfallkater   zu stabilisieren und seine Beinchen mit Hilfe einer Physiotherapeutin auch künftig weiter zu trainieren. Denn in den Hinterläufen ist durchaus noch Gefühl drin. Mehr noch: Charles bewegt sie. Wird er gestreichelt, pfötelt er mit den kranken Beinchen, versucht sogar, aufzustehen und sie zu belasten. Was für Fortschritte! Vielleicht kann der Kater irgendwann wirklich mal wieder auf eigenen Beinchen stehen und sogar laufen.

Katzenfreunde werden sich noch erinnern: Der Fundkater war am 12. März in der Leipziger Straße in Meiningen   angefahren worden, lag in seinem Schmerz zusammengekrümmt um einen Laternenpfahl, bis sich endlich jemand seiner erbarmte. Nach so viel Pech hatte der kleine Charmeur aber großes Glück. Im Sturm eroberte der Stubentiger die Herzen des Tierarztpraxisteams, das vieles versuchte und auch eigentlich Unmögliches möglich machte für den kleinen Herzensbrecher – vom maßgeschneiderten Katzen-Rollator, der eigenes angeschafft wurde, bis zu  physiotherapeutischer Behandlung. Am vergangenen Muttertagswochenende wurde der beliebte Patient entlassen und  zum Bürokater von Tierheimleiterin Jenny Kleffel.

Ein Kater auf Achse

Ob das gequetschte Rückenmark sich wieder erholt? Ob Charles’ Hinterläufe eines Tages wieder  ihre Aufgabe erfüllen?  Wer weiß das schon. Dem lebensfrohen Kater auf zwei Pfoten und zwei Rädern scheint es schnurzpiepegal zu sein. Hauptsache, er kann sich  fortbewegen. Von seinem  Mobil macht er rege Gebrauch, in das ihn seine Pfleger täglich  hineinsetzen.  Was für ein rührender Anblick, wenn der kleine Kämpfer unverdrossen drauflos tapst, neugierig jede Ecke erkundet und jede Entdeckung mit seinem hohen Stimmchen kommentiert.

Wegen der Lähmungserscheinungen gibt es noch ein anderes Handicap: Die Blasenentleerung hat das Samtpfötchen  derzeit nicht selbst unter Kontrolle. Die künftige Familie von Charles muss also seine Blase täglich ausmassieren, vielleicht auch Windeln einsetzen. Denn alle Nase lang an einen Blasenkatheter angeschlossen zu werden, ist keine Perspektive für den jungen Kater, der noch den größten Teil seines Lebens vor sich hat und ganz offensichtlich gewillt ist,  das auch in vollen Zügen zu genießen.

Muss das alles sein? Auch diese Frage haben manche gestellt, weil Charles nun, zumindest bis auf Weiteres, ein Leben im Rollstühlchen führt.  Katzen jagen, klettern, hüpfen, springen – ist das Katzendasein überhaupt noch lebenswert, wenn all das nicht mehr geht? Wie oft werden deshalb Tiere, die nicht mehr laufen können,  eingeschläfert ...  Wer Charles mit seinem fahrbaren Untersatz erlebt,  seine Freude darüber sieht, wieder mobil zu sein, wird schnell eines Besseren belehrt. Auch Katzen wollen vor allem eines: leben –  auch mit kleinen Einschränkungen. Der einjährige Charles jedenfalls versprüht trotz seines Handicaps – das zweifellos auch seine Pfleger vor Herausforderungen stellen wird – eine Lebensfreude, von der sich so mancher eine Scheibe abschneiden kann.

(Mit freundlicher Genehmigung des Meininger Tageblatts)

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